Modellprojekte zur Erprobung der Telepflege können der Start in eine neue Pflegezukunft sein. Nicht erst mit der anstehenden Verpflichtung zum Anschluss der Pflege an die Telematikinfrastruktur (TI) - wenn auch durch das geplante Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz - DigiG) jetzt auf das Jahr 2026 verschoben - ist das Thema „Digitalisierung der Pflege“ omnipräsent. Ich bin der festen Überzeugung, dass ohne eine weitere Digitalisierung - neben mehr Fachkräften und einem effizienteren Arbeiten etwa mit den neuen Wegen des Personalbemessungsverfahrens - dem Fachkräftemangel künftig nicht Herr zu werden ist.
Großes PotenzialDaher passt es gerade jetzt, dass mit dem Modellprogramm gemäß Paragraf 125a SGB XI zur Erprobung der Telepflege ein Vorhaben vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV) umgesetzt wird, das neue Arbeitsformen und Digitalisierung ideal kombiniert. Die Telepflege, das heißt die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien, um Pflegekräfte untereinander oder mit Ärzten, Pflegebedürftigen und Angehörigen über räumliche Grenzen hinweg zu verbinden, hat das Potenzial, das Arbeiten in der Pflege umzukrempeln.
Im Modellprogramm werden laut Gesetz für eine wissenschaftlich gestützte Erprobung von Telepflege zur Verbesserung der pflegerischen Versorgung von Pflegebedürftigen aus Mitteln des Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung zehn Millionen Euro im Zeitraum von 2022 bis 2025 zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, herauszufinden, ob durch die Nutzung von Videodiensten die Pflegebedürftigen, deren An- und Zugehörige und das Pflegepersonal entlastet werden. Dabei gilt es zu untersuchen, welche pflegerischen Arbeiten für den Einsatz telepflegerischer Lösungen besonders geeignet sind.
Auswahl eines VideodienstanbietersGrundsätzlich ist der TI-Messenger (TIM) für die Videokommunikation über die TI in Zukunft vorgesehen. Weil hier die Entwicklungen jedoch noch nicht so weit fortgeschritten sind, dass eine Videolösung und insbesondere auch für die Kommunikation mit dem Leistungsempfänger zur Verfügung steht, hat der GKV-SV im Modellprogramm die Nutzung eines zertifizierten Videodienstanbieters nach Paragraf 365 Abs. 1 SGB V zur Bedingung gemacht. Damit betreten die meisten Pflegeeinrichtungen Neuland und werden vor ein komplexes Problem gestellt.
Der GKV-SV listet auf seinen Seiten 86 zertifizierte Produkte von 48 Anbietern auf, die sich bereits in den Grundfunktionen - neben dem, dass sie alle eine Videoverbindung zur Verfügung stellen - deutlich unterscheiden: in der Ausrichtung auf verschiedene Gesundheitsberufegruppen, in der Anzahl der möglichen Teilnehmenden, in der Nutzung über einen Webbrowser oder als zu installierende Lösung und auch in der Lizenzierung. Noch größer werden die Unterschiede bei Betrachtung der enthaltenen Zusatzfunktionen wie etwa einer Kalenderfunktion, der online-Terminvereinbarung, dem gemeinsamen Zugriff auf Dokumente oder Chatfunktionen. Und mit jeder weiteren Software droht die Gefahr, die oft schon große Heterogenität der Softwarelandschaft einer Pflegeeinrichtung noch zu vergrößern, wenn diese Lösung sich nicht in die bestehende Umgebung integrieren lässt.
Daher ist die Interoperabilität der Videolösungen mit den Pflegesoftwaresystemen für mich ein zentrales Kriterium bei der Auswahl der Programme. Doch selbst wenn die Videolösung sich integriert, bleibt die Frage nach der Offenheit ihrer Pflegesoftware: Kann diese Termine mit anderen Programmen austauschen, externe Personen einladen, aus diesen Terminen die Videositzung aufrufen oder Dokumente aus der elektronischen Patientenakte mit anderen Programmen teilen?
FINSOZ fühlt den Softwareanbietern auf den ZahnDiesen Fragen ist unser Verband in zwei Umfragen, die gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) stattfanden, nachgegangen. Zunächst wurden die zertifizierten Videodienstanbieter nach ihrem Interesse am Pflegemarkt und der Bereitschaft zur Teilnahme an der Erprobung sowie der Integration in Pflegesoftwaresysteme befragt. Die große Mehrheit (88 Prozent) der 17 antwortenden Anbieter sieht in der Pflege einen attraktiven Markt. Keines der teilnehmenden Unternehmen hat sich gegen diesen Markt ausgesprochen.
Etwas mehr Zurückhaltung zeigten die Unternehmen jedoch bei der Frage nach der Bereitschaft zur Beteiligung an der Ausschreibung zur Erprobung: Nur 65 Prozent gaben dazu ein klares Bekenntnis ab, bei 35 Prozent bestehen noch Zweifel. Die aus meiner Sicht unerlässliche Anpassung der Videolösungen an den Pflegebereich ist noch nicht weit fortgeschritten: 38 Prozent der interviewten Firmen sagen, dass sie mit programmtechnischen Adaptionen begonnen haben. Zurückhaltung zeigt man außerdem bei der Einbindung der Lösungen in die Pflegeinformationssysteme: erst drei Anbieter haben eine solche realisiert, weitere zwölf sagen, dies sei „denkbar“, werden ihre Entscheidung aber aufgrund der künftigen Nachfrage treffen. Zusammenfassend sehe ich von Seiten der Videodienstanbieter eine hohe Bereitschaft zum Eintritt in den Pflegemarkt.
Zurückhaltung bei den SoftwareanbieternAus meiner Sicht ernüchternder war indes das Ergebnis einer Umfrage unter den Pflegesoftwareanbietern. Auch hier wurden die Bereitschaft zur Teilnahme an der Erprobung und der Integration von Videodiensten abgefragt. Die Hersteller von Pflegesoftware sind deutlich zurückhaltender als die Videodienstanbieter: Nur 19 Prozent sagten eindeutig „Ja“ zur Teilnahme, 57 Prozent werden sich nur beteiligen, „wenn die Rahmenbedingungen stimmen“, weitere 19 Prozent haben sich noch nicht entschieden und immerhin zehn Prozent sagen „Nein“ zu einer Teilnahme an der Erprobung.
Von einzelnen Anbietern wird die zögerliche Haltung hinsichtlich der Erprobung damit begründet, dass bei den TI-Projekten immer noch zu medizinisch gedacht werde. Ebenso befürchtet man einen hohen Aufwand bei der Klärung von Fragen - und damit ein Missverhältnis von Kosten und Nutzen. Etwas positiver ist die Einstellung zu einer Kooperation mit einem zertifizierten Videodienstanbieter: 88 Prozent der Pflegesoftwarenbieter halten das für denkbar, ein Hersteller hat eine solche bereits geplant und zwei haben sie bereits realisiert. Positiv ist auch: Die Integration mit der eigenen Software ist für 76 Prozent grundsätzlich denkbar, 18 Prozent planen eine solche schon konkret, und immerhin sechs Prozent haben sie bereits realisiert.
Trotz der in Teilen Zurückhaltung signalisierenden Befragungsergebnisse gehe ich davon aus, dass ein großer Markt für Videolösungen zur Realisierung einer Telepflege gegeben ist und sich daher eine Vielzahl interessanter Integrationslösungen zwischen diesen und den Pflegesoftwaresystemen entwickeln werden. Genauso überzeugt bin ich vom Nutzen der Telepflege: höhere Kontinuität in der pflegerischen Versorgung, neue Möglichkeiten der kollegialen Anleitung, Verbesserung des Informationsaustauschs, Vermeidung von langen Anfahrtswegen sowie bessere Einbindung der An- und Zugehörigen.
Dietmar Wolff ist Professor für Wirtschaftsinformatik und Vizepräsident Lehre und Leiter der Forschungsgruppe "Innovative Gesundheitsversorgung" an der Hochschule Hof.Titel | Telepflege - Chance oder weit entfernte Hilfen? |
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Medien | epdsozial |
Verlag | epdsozial |
Heft | 45 |
Band | 2023 |
ISBN | --- |
Verfasser/Herausgeber | Prof. Dr.-Ing. Dietmar Wolff |
Seiten | --- |
Veröffentlichungsdatum | 2023-11-10 |
Projekttitel | pulsnetz - MuTiG |
Zitation | Wolff, Dietmar (2023): Telepflege - Chance oder weit entfernte Hilfen? epdsozial 2023 (45). |